Manchmal träume ich von Perfektion. Von dieser perfekten Mutter, die ich manchmal gerne wäre. Sie hat selbstverständlich lächelnde, glückliche Kinder und ist immer entspannt, freundlich, zugewandt, liebevoll, klar, konsequent und hat für jedes Problem eine Lösung. Und natürlich ist auch die Wohnung perfekt organisiert: Saubere Klamotten für alle liegen nach Farben sortiert akkurat gefaltet im richtigen Schrankfach und warten nur auf ihren Einsatz. Auch Socken treten immer im Zweierpack auf und bilden nie frustrierende Single-Häufchen in irgendeiner Ecke. Die Busfahrkarte ist für alle immer aktuell. Schulaktivitäten werden vorausschauend geplant und es gibt nie diese panischen „Was-soll-das-heißen-ihr-braucht-für-morgen-30-Muffins-für-die-Klasse“-Sätze. Selbstverständlich sorge ich in diesen Träumen dann auch perfekt für mich und für meine Partnerschaft. Ich bin sportlich, achte auf Ernährung, nehme mir Zeit für mich, meditiere regelmäßig oder mache Yoga oder wenigstens den Bauch-Beine-Po-Kurs. Natürlich pflege ich mit der Familie kulturelle und künstlerische Interessen sowie den Freundeskreis und engagiere mich für irgendetwas sehr Wichtiges. Ich arbeite in einem mich selbst verwirklichenden Beruf, der niemals dem Familienleben in die Quere kommt.
Wo sind meine glücklichen Momente?
Aber dieses wunderbare Leben macht was es will und hat kein Interesse an meinen Wünschen und den Bildern, die irgendwelche Werbeleute in meinen Kopf gesetzt haben. Hast du dir mal Werbung für Produkte für Kinder angeschaut? Die Mütter auf den Bildern schauen weichgezeichnet Mutter-Theresa-mäßig auf das immer glückliche Kind. Wieso ist mein Kopf so voll von diesen Bildern? Kenne ich irgendjemanden, der so lebt? Nein, aber auch im echten Leben sehe ich von anderen häufig nur die Instagram-Momente. Die gut ausgesuchten und ausgeleuchteten Momente und dann macht mein Gehirn daraus schnell ein „Siehst du, die kann es, so ist es immer bei der, nur bei dir klappt es nicht.“
Hm. Ja. Ich muss auch nicht alles glauben, was ich so denke.
Gehen wir die Sache mal analytisch an: Ehrlich gesagt, bin ich diese Mutter in einigen Momenten. Eigentlich sogar in vielen Momenten. Wieso fallen mir diese Momente dann viel weniger ein als die anderen, die chaotischen, in denen alles drunter und drüber geht?
Mein Gehirn arbeitet gegen mich
Das liegt leider an meinem Gehirn, diesem Dummerchen. Es hat immer noch nicht verstanden, dass kein Säbelzahntiger mehr um die Ecke kommt, sondern höchstens mein Chef. Und der wird mich nicht fressen, da ist der Betriebsrat bestimmt dagegen.
Aber mein Gehirn hat eben hauptsächlich den Job, mich zu schützen und mein Leben möglichst zu verlängern. Also hat es den Mechanismus entwickelt, die dramatischen und negativen Momente besonders gut zu behalten. Logisch. Die sind potenziell gefährlich. Die guten Momente nicht, die kann man so vorüberziehen lassen und muss sie nicht irgendwo speziell abspeichern.
Das kommt unserem Wunsch nach glücklichen Kindern voll in die Quere. Was erzählst du deinem Partner oder deiner Freundin von deinem Tag? Ist es eher: „Er hat fast in die Steckdose gefasst, puh, so ein Schreck!“, „Übrigens, die Vase deiner Mutter ist hinüber, war ein Unfall.“, „An der vierspurigen Straße musste ich echt schnell sein, sie wäre fast losgelaufen.“
Oder ist es: „Als ich heute an der Ampel stand, habe ich das Sonnenlicht in dem Baum gegenüber glitzern gesehen.“, „Wir haben die Lebensmittel in den Kühlschrank gepackt und dabei gemerkt, wie schön eigentlich Tüten knistern.“, „Diese friedliche Minute, in der wir Joghurt aßen und alle ganz still wurden, war heute besonders schön.“
Welche Situationen erzählst du öfter? Ich tippe auf Erstere. Generell haben wir die Tendenz, das Negative über- und das Positive unterzubewerten.
Das Negative gut zu speichern dient, wie gesagt, unserem Schutz. Das meint das Gehirn gar nicht böse. Aus sehr vielen dieser negativen Speicherungen entwickelt sich aber über einen längeren Zeitraum hinweg eine Meinung und damit auch eine Erwartung. Und dann, da das Gehirn auch noch effizient arbeitet, gibt es den sogenannten „Bestätigungsfehler“, der dafür sorgt, dass wir nur das wahrnehmen, was wir schon glauben und erwarten. Also ist es plötzlich in unserem Kopf und damit auch in unserer Realität immer so. Er hilft wirklich nie beim Abwasch, das Zu-Bettbringen klappt gar nicht und sie würde auf keinen Fall… was auch immer. Jedenfalls weißt du ganz sicher, wie dein Kind ist, wie deine ganze Familie ist. Du weißt, wie dein Kind sich immer verhält. Und durch den Bestätigungsfehler des Gehirns verpasst du all die vielen Momente, in denen es ganz anders ist.
Was ich denke, ist nicht die Realität
Es ist wirklich gut zu wissen, dass das nicht die Realität ist, die du da wahrnimmst. Du hast Meinungen und Urteile über Gegebenheiten in deinem Umfeld entwickelt und nimmst diese verstärkt wahr. Das muss so sein, das Gehirn braucht leider Vor-Urteile, auch wenn die in der Welt wirklich viel Ärger anrichten. Aber wir wären nicht handlungsfähig, wenn wir jeden Tag alles neu wahrnehmen müssten. Die bekannten Sachen sind gespeichert und das schützt uns. Wir brauchen superschnelle Gedankengänge wie: „Großes, schnelles, quadratisches Ding kommt von links, während ich auf Asphalt stehe = Bus = zwei Schritte zurücktreten = sonst schlecht.“ Sehr sinnvoll, nur leider übertreiben wir dabei und wenden es überall an. Die effizienten Abkürzungen unseres Gehirns tun uns in unseren Beziehungen oft keinen Gefallen, denn ein „Der-ist-immer-so“ klammert jede Entwicklung, jedes echte Menschsein, in dem anderen aus.
Bitte schau doch einmal, was für Meinungen du über dein Kind hast. Schau sie dir morgen einfach mal ganz neutral und, wenn möglich, sogar freundlich an. Schon die kleinen Dinge morgens am Tisch mit deinem Kleinkind: „Sieh mal an, ich denke, dass er sowieso immer kleckert, die Meinung habe ich gebraucht, damit ich an das Lätzchen denke, fein, aber wird es ihm wirklich noch gerecht? Ist es nicht schon viel besser als noch vor drei Monaten? Müsste man mal neu überprüfen.“
Oder räumt dein größeres Kind wirklich nie seinen Teller weg? Es gibt eigentlich fast nichts im menschlichen Verhalten, was nie oder immer passiert. Geh doch vielleicht mal so durch deinen Alltag und schau dir deine Meinungen an. Ist sehr spannend, versprochen.
Und es ist sehr hilfreich für deinen Wunsch nach glücklichen Kindern und entspanntem Familienleben. Kinder tun fast immer das, was du von ihnen erwartest, bloß ist es leider das, was du unbewusst erwartest. Sehr lästig, tut mir leid! Ich weiß, du möchtest, dass sie das tun, was du willst, aber das klappt nicht. Wenn du eine Sache willst, aber insgeheim vom Gegenteil überzeugt bist, dann bekommst du in den meisten Fällen das Gegenteil. Und kannst mal wieder deine heimliche Meinung bestätigen.
Also macht es wirklich Sinn, sich deine Meinungen über dein Kind mal ganz genau anzuschauen. Gib ihm oder ihr die Chance, sich gemäß ihren Möglichkeiten zu entwickeln und zementiere sie oder ihn nicht fest mit deinen Erwartungen. Das ist schwierig, ich weiß. Aber oft reicht es, sich das immer wieder bewusst zu machen.
Dreh es um und nutze es
Solltest du das gemacht haben und dir des permanenten Bestätigungsfehlers bewusst sein, dann nutze ihn zu deinem Vorteil: Es funktioniert nämlich auch anders herum. Hast du eine feste positive Meinung zu etwas entwickelt, nimmst du auch das verstärkt wahr.
Du willst glückliche Kinder? Dann suche ganz gezielt jeden Tag und immer wieder nach den positiven Momenten. Betone sie. Nimm sie wahr. Erzähle sie jemandem. Nehmt sie zusammen wahr. Immer wieder. Schreibe sie auf. Hänge sie irgendwo hin. Singe sie, mach was du willst damit, aber mach sie größer und wahrnehmbarer.
Tricks für mehr Glück
Dafür gibt es viele kleine Tricks: Eine Erzieherin, in einem der Kurse, die ich unterrichte, spielt jeden Tag ein Spiel mit sich selbst (ich glaube, sie hat das Spiel von Lienhard Valentin). Sie hat immer kleine Bohnen in ihrer linken Tasche. Und bei jeder positiven Wahrnehmung nimmt sie eine Bohne und tut sie in die rechte Tasche. Ziel des Spiels ist es, am Ende des Tages so viele Bohnen wie möglich in die rechte Tasche transportiert zu haben. Und schon hat sie täglich einen konkreten Beweis für ihre guten Momente.
Ich kenne auch eine Familie, die das als Familienspiel spielt. Sie haben auf dem Küchentisch eine Schale stehen und ein Glas mit vielen hübschen Steinen. Wenn jemand etwas Positives erlebt oder wahrgenommen hat, legt er einen Stein in die Schale. Abends beim Essen werden die Steine einzeln herausgeholt und jeder erzählt seine positiven Momente dazu.
Ehrlich gesagt ist die Geschichte nicht ganz wahr, diese Familie hat nämlich zuerst sehr gehirnkonform gearbeitet, sie hat es genau umgekehrt gemacht. Sie hat für jedes negative Erlebnis einen Stein in die Schale gelegt. Abends bekamen die Kinder oft noch einmal Ärger für das bereits Vergangene und es blieb noch präsenter. Die Familie rief mich zur Beratung, weil es für ihr Empfinden immer schlimmer wurde und besonders der Geschwisterstreit extrem eskaliert war. Als ich beim Hausbesuch die Schale auf dem Tisch sah und danach fragte, erzählten sie mir die Geschichte und ich bat sie, als allererste Intervention, das Ganze umzudrehen: Jeder sammelt positive Momente am Tag und abends werden diese gemeinsam gefeiert. Ehrlich gesagt konnten die Kinder das am Anfang weit besser als die Erwachsenen, die mussten erst wieder üben, die positiven Dinge überhaupt wahrzunehmen.
Dies war die erste und auch schon die letzte Intervention in dieser Familie. Viele Wochen später berichteten sie mir, dass sie auf einen weiteren Termin verzichten konnten, es sei „irgendwie alles viel besser geworden“. Besonders die Kinder seien glücklicher und würden ihre Geschwister mehr schätzen. Das hat mich sehr gefreut, denn das ist das Ziel meiner Arbeit als Kinderpsychologin, mich so schnell wie möglich überflüssig zu machen und dass es „irgendwie besser“ wird, oft ohne dass man sagen kann, was genau passiert ist. Das Grundgefühl ist einfach ein anderes geworden.
Unser Gehirn kann umlernen und den Fokus auf andere Dinge lenken, aber es braucht eine Phase der bewussten Übung dazu.
Lass mich dir noch von einer weiteren Familie auf der Suche nach glücklichen Kindern erzählen. Diese Familie empfand die 8-jährige Tochter als sehr „schwierig“ (sie hatte unter anderem begonnen zu stehlen). Der eigentlich sehr liebevolle Vater konnte meine Frage, was er gut finden würde an seiner Tochter nicht beantworten. Ihm fiel nichts ein. Er war selbst ziemlich erschüttert über diese Erkenntnis und verstand, dass es bei so viel negativer Erwartung fast unmöglich für die Tochter war, sich „gut“ zu verhalten. Nach einer halben Stunde Gespräch, wir waren längst bei einem anderen Aspekt gelandet, hatte er offensichtlich intensiv nachgedacht und rief plötzlich zusammenhangslos: „Sie hat schöne Augen“. Das war ein Anfang. Es hat mich sehr gerührt, wie die Familie in den nächsten Wochen gemeinsam gezielt auf die Suche gegangen ist nach guten Momenten. Auch hier erreichte mich Monate später eine fröhliche Nachricht, die von der aufgeblühten Tochter erzählte, die jetzt so viel Freude bereitete. Die geheimen Erwartungen und der positive Blick auf das Kind können nicht hoch genug eingeschätzt werden und ein bewusstes Umdenken kann sehr viel bewirken. Nicht in jedem Fall natürlich. Nichts funktioniert immer. Aber glückliche Kinder brauchen glückliche Momente, versuch doch einmal, sie zu finden und gemeinsam deutlicher wahrzunehmen. Könnte sich sehr lohnen.
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